Die Frau hat doch in allem Leiden nicht vergessen, was ihr Gutes getan worden ist. <- der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen -> hat sie auch für sich geglaubt und hat daran festhalten wollen. Aber ihre Gebrechen sind nicht geheilt worden. Seitdem hat es ihr Mühe gemacht, wenn sie daran denken sollte, was ihr Gutes getan worden ist. ‚Unrein’ schrie alles um sie her ihr zu. Aus allen Stimmen und den Blicken glaubte sie: ’Unrein!’ zu vernehmen. Unrein war sie unter den anderen, unrein unter den Menschen des Volkes Gottes.
Zwölf Jahre ist das nun her. Aber sie hat gehört, wie der Mann, den sie hätte scheuen müssen als einen Obersten der Synagoge, für ein Kind bitten mußte, damit ‚sein Mund wieder fröhlich wird!’
<Dein Kind ist gestorben!> hat sie einen sagen hören. <Bemühe den Meister nicht!> Alle Mühe ist vergeblich, jedes Bitten kommt zu spät, es ist alles umsonst. Ins Leere ist seine Erniedrigung gegangen. Er kann den Staub von seinem Gewand klopfen. Er kann nur in ein Totenhaus zurückkehren. Auch sein Mund wird nicht wieder fröhlich sein. <Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich -> könnte er noch sagen.
Wer erbarmt sich nun des Vaters, aus dessen Erbarmen sein Kind fortgenommen worden ist? Jetzt kann ihm nur noch gesagt werden: <Gott weiß, was für ein Gebilde wir sind; er denkt daran, daß wir Staub sind>.
Der Vater wollte nicht mehr von dem Mann, der den Stürmen Einhalt gebot und den Teufeln einen Weg weisen konnte, als daß er daran denken und sich erbarmen sollte, weil sie alle nur Staub sind und für eine kleine Weile ihr Leben haben. Die Traurigkeit der Worte rührt ihn an: <...eine Blume auf dem Felde ... wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da ... ihre Stätte kennt sie nicht mehr ...>
Der Wind ist über das Kind hingegangen. Nun hat er viel Zeit, um zu singen in der Erinnerung an sein Kind: <...und du wieder jung wirst...wie ein Adler...> Sie wird immer so jung bleiben für ihn, wie sie war, als er fortging, um Hilfe zu erbitten.
Ein junges Mädchen war fortgegangen, bevor es so weit war, daß sie hätte begreifen können, was das sein sollte: <...seine Gerechtigkeit auf Kindeskind und...>
Es war nur eine Berührung gewesen, flüchtig, verlegen, ganz ungewusst, daß sie die Hand ausstreckte. Kraft war in sie übergegangen, hatte sie erfüllt, war in ihr aufgestiegen und hatte sich entfaltet. Deshalb leidet sie, weil eine Stimme gesagt hat: <Dein Kind ist gestorben!> Das Kind ist nun dort, wo ein anderes Gewand sie umhüllt.
<Sein Reich herrscht über alles...> war auch ihr gesagt worden. Aber da, wo nun Dunkel war und Tod und kein Licht mehr leuchtete, konnte das Reich nicht sein. Oder es war ein Reich, das keinen Reichtum mehr kannte, in das sie alle zu gehen hatten, die hinüber gehen mussten, so viele, immerfort, zu allen Zeiten. Die ‚Stimme seines Wortes’ erreichte sie nicht mehr, die selber keine Stimme mehr hatten, um zu rufen.
Einmal hatte die Stimme gesprochen zu dem hin, der sie empfangen und verstehen konnte: <Du sollst dir keine Frau nehmen und weder Söhne noch Töchter zeugen an diesem Orte. Denn so spricht der Herr von den Söhnen und Töchtern, die an diesem Ort geboren werden, und von ihren Müttern die sie gebären, und von ihren Vätern, die sie zeugen in diesem Lande: ‚Sie sollen an bösen Krankheiten sterben und nicht beklagt noch begraben werden, durch Schwert und Hunger sollen sie umkommen’> (Jer 16)
Der hatte leben müssen mit diesem Wissen, der Mann damals.
Und hatte mit seinem Gehorsam den Worten gegenüber zu leben. Er hatte an den Worten getragen. Seine Kraft hat es ertragen müssen. Aber es war etwas, was kein Mensch tragen konnte, ohne Schaden zu nehmen an seiner Seele, an seinem Leben. Es war furchtbar gewesen, das Geheiß: <Du sollst in kein Trauerhaus gehen, weder um zu klagen noch um zu trösten; denn ich habe meinen Frieden von diesem Volk weggenommen, die Gnade und die Barmherzigkeit!>
Finsternis war über eine Welt hergefallen, Finsternis muss über diesen Menschen gefallen sein, mußte ausgelöscht haben, was ein Leben hell machte, wenn er so seine Mitmenschen ansehen mußte: die Erwachsenen, die mit ihm groß geworden waren und die Kleinen, die ihre Kinder waren. Denn, das wußte er von ihnen: <Große und Kleine sollen sterben in diesem Lande!>
Die Frau sieht ihm nach, wie er hingeht zu dem Haus, wo das Mädchen liegt, ein Kind des Volkes, über dem die Schatten dieser Worte liegen. Jetzt weinen sie und klagen, wie die Frauen immer weinen und klagen. Er geht durch sie hindurch, geht durch ihr Weinen und Klagen und Schreien. <Weinet nicht!> spricht er ihnen zu. Er braucht die Stille, vielleicht braucht er auch ihre Kraft, die sich im Weinen und in Tränen auflöst.
‚Weinet nicht!’ möchte sie ihnen zurufen: ‚ <Ihr! Seine Engel! Ihr starken Helden, die ihr seinen Befehl ausrichtet!>’ möchte sie mit aller Kraft rufen, die Engel erreichen mit ihrer Stimme, in diesem Augenblick, wo ihr die Krankheit genommen worden ist und das Licht sie erfüllte. Sie ruft die Engel, die Boten an, damit sie seinen Willen tun, damit sie tun an dem Kind, wie sie es getan sehen möchte. Große und Kleine sollen nicht sterben in diesem Lande.
Still ist es um sie her, rein ist sie geworden und rein betet sie in ihrem Inneren, gewiss des Willens, der nun an diesem fremden Mädchen geschieht.
Seine Hand legt sich auf die Hand des Kindes, umgreift diese Hand, die einmal, ganz am Anfang, nach der Hand eines Menschen gegriffen hatte, zum allerersten Male. Eine Stimme hatte zu ihr gesprochen, als ihre Augen aufsahen zu den Augen, die über ihr waren und auf sie hingesehen hatten. Ihr war, als riefe sie, die Stimme, wie eine Stimme oft gerufen hat, wenn die Nacht vorbei war und das Schlafen und die Versunkenheit: <Kind! Stehe auf!> ‚Komm, steh auf, es ist Zeit!’ ‚Wach auf! Steh auf!’ Und immer hat sie gehorcht, war der Stimme gefolgt, war aufgewacht.
Auch diesmal ‚kam ihr Geist wieder.’
Eine Hand hielt ihre Hand und es war gut, daß da eine Hand war. Denn sie mußte noch immer das Andere sehen und die Worte hören, die Worte, die von dem Dunkeln und Finsteren sprachen, das über sie alle kommen mußte: <Gebt acht! Und bestellt Klageweiber, daß sie kommen und schickt nach denen, die klagen können, daß sie herbeieilen und um uns klagen!>
Sie hatte es gehört und die Bilder davon sehen müssen, als sei es auch für sie gesprochen: <Lehrt eure Töchter klagen und eine lehre die andere dies Klagelied: ‚Der Tod ist in unsere Fenster hereingestiegen und in unsere Häuser gekommen. Er würgt die Kinder auf der Gasse und die jungen Männer auf den Plätzen!> (Jer 9)
Das Geheul der Klageweiber ist noch in ihren Ohren, das Heulen und das Geschrei. Der Tod ist in die Fenster gestiegen und hat eine der Töchter angerührt. Der Tod war in sie eingedrungen, lange, bevor es Zeit sein konnte dafür. Es war von draußen gekommen, das Grauen, das Furchtbare und hatte alle Kraft genommen, die sie hatte, die sie als Kind hatte. Sie wollte bleiben wie ein Kind, das nicht angerührt werden kann von allem Leid und Missgeschick, von aller Traurigkeit, die über die Menschen kommt. Sie wollte nicht die Kinder sehen, die auf der Straße gewürgt werden. Sie wollte nicht die jungen Männer sehen, die auf den Plätzen liegen, nicht die Häuser mit den leeren Höhlen ihrer Fenster und den Rauch nicht riechen, der über den Wohnstätten hängt, und nicht den Geruch riechen, der über alles kriecht.
Ihre Augen erwachen zum Sehen und sie sehen auf Jesus, der auf sie hinsieht und ihre Hand in seiner hält. Er läßt ihre Hand und befiehlt, daß sie ihr zu essen geben sollen.
‚Ein weiter Weg liegt vor dir!’ sagt ihr sein Blick. ‚Ein weiter Weg!’ ‚Am Ende dieses Weges...’ - wird dann noch immer sein Blick auf ihr ruhen? Wird sie dann eine Tochter haben, auf der ihr Blick ruhen kann, unter Tränen vielleicht?
Oder wird ihr Sohn dann einer sein von denen, die auf der Straße liegen? Aber es ist genug für diesen Tag, für dieses Erwachen. ‚Steh auf!’ hat er gesagt und sie ist aufgestanden. Aber Essen, Trinken! Essen und Trinken werden es nicht schaffen, daß einer das ertragen kann, was kommen wird.
Es ist genug für diesen Tag, für dieses Erwachen. Ihrem Vater, ihrer Mutter wird sie wieder die Tochter sein. Und einmal wird sie eine alte Frau sein dürfen, die auf die Kinder hinsieht, die dann gerufen werden müssen, damit sie erwachen und aufstehen, in ihr Leben, in ihren Tag -.
Oder dorthin, wo die Engel sie einhüllen werden in ein leuchtendes Gewand.
<’Fürchte dich nicht! Glaube nur! So wird sie leben!’> hatte die Frau Jesus sagen hören zu dem Vater. ‚Nicht fürchten! Glauben! So wird sie leben!’ hatte sie behalten und für einen Augenblick war sie ganz ohne Furcht, hatte den Glauben wie ein Geschenk in ihrem Herzen.
War sie nun in ihrem Leibe gewesen, oder war sie außer ihrem Leib gewesen, so wußte sie es nicht mehr, da sie zurückgekommen war und sah und sprach. Aber daß er gesagt hatte: ‚Sie ist nicht tot - sie schläft!’ - das war ihr geblieben, das hatte sie tief innen gehört und aufgenommen, weil es über sie gesagt worden war. Danach hatte er nach ihr gerufen.
Aber Menschen sprachen manchmal so, wie in Gleichnissen, mit ihren Sprachbildern, wenn es Abend wurde, wenn die Nacht kam, vom Schlafen - und vom Tode, in den sie alle hineinstarben. Auch da würde jemand rufen und sie würden folgen. Aber Jesus stand da, nahm ihre Hand und sie hörte Worte, die Menschen nicht sagen können, bis die Stimme nach ihr gerufen hatte: ‚Steh auf!’ Alle Kraft, die ihm geblieben war, lag in diesem: ‚Wach auf!’ ‚Steh auf!’
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